Proseminararbeit
am Institut für Philosophie an der Universität Wien
März 1993
Eingangs möchte ich einige Grundsatzfragen im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ untersuchen und den philosophischen Hintergrund desselben bei Kant behandeln, um dann auf die Frage der Sinnhaftigkeit des kategorischen Imperativ einzugehen.
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“1
Der kategorische Imperativ besagt, daß sich jeder Mensch vor jeder Handlung überlegen soll, ob er, wenn er Gott wäre, die Maxime des der Handlung zugrundeliegenden Willens zum allgemeinen Gesetz machen würde.
Nun stellt sich die Frage, ob überhaupt jeder Mensch imstande ist, sich in die Lage Gottes hineinzudenken und nach welcher inneren Instanz er letztlich entscheiden soll. Für Kant ist diese Instanz die Vernunft. Jeder Mensch hat eine Vernunft und daher ist jeder Mensch imstande, solche Entscheidungen zu fällen. Ob er allerdings nach seiner Vernunft handelt, ist die freie Entscheidung jedes Menschen; er hat auch die Möglichkeit, „unvernünftig“zu handeln. Für Kant kann eine Entscheidung nur dann gut sein, wenn sie Ausdruck der Vernunft ist.
Der gute Wille ist für Kant das einzige, dem er zugesteht, daß es uneingeschränkt gut ist. Denn jede Handlung, und sei sie auch noch so gut gemeint, hat negative (böse) Nebenaspekte. Der Wille allerdings ist uneingeschränkt gut, da er diese Nebenaspekte nicht zum Inhalt hat. Wenn jemand etwas Gutes tun will und aus Versehen oder mangelnder Fähigkeit etwas Schlechtes tut, dann war der Wille trotzdem ausschließlich gut, da seine schlechte Realisierung nicht gewollt war.
Damit für Kant eine Handlung gut ist, muß der ihr zugrundeliegende Wille gut sein, d. h. der Wille muß frei sein und er muß die Werte um ihrer selbst willen befolgen. Wenn jemand aus Eigennützigkeit gut handelt, dann ist diese Handlung für Kant nicht gut, da sie die Werte nicht als solche respektiert und befolgt, sondern nur gleichsam zufällig mit ihnen übereinstimmt, da das eigentliche Motiv die Eigennützigkeit war.2
Ein Wert verlangt, verbindlich gemacht und befolgt zu werden. Sinnvollerweise sollte ein Wert außerdem verlangen, daß man keinem anderen die Möglichkeit nimmt, ihn zu befolgen.
Ein Wert drängt genauso wie ein Naturgesetz nach Einhaltung. Der Unterschied besteht darin, daß man sich einem Wert freiwillig unterordnet bzw. einem die Einhaltung eines Wertes anerzogen wird, während man dem Naturgesetz von Geburt an unterliegt. Wäre also ein „Wert“ für alle Menschen von Geburt an gültig, wäre er kein Wert sondern ein Naturgesetz.
Um die Frage der Sinnhaftigkeit eines kategorischen Imperativ zu beantworten, werde ich Modelle untersuchen, in denen der kategorische Imperativ als höchstes Prinzip vorausgesetzt wird, um zu zeigen, welche theoretischen und praktischen Auswirkungen die Annahme des kategorischen Imperativ a priori auf ein System hat.
Bei den folgenden Überlegungen wird also – auch wenn es nicht explizit als Bedingung gefordert wird – die Einhaltung des kategorischen Imperativ von allen Menschen axiomatisch vorausgesetzt.
Ohne ein Wertsystem wäre der kategorische Imperativ sinnlos: Es würde keine allgemeingültigen Richtlinien für Gut und Böse geben; jeder würde nach subjektiven Gesichtspunkten entscheiden, ob die Maxime seines Willens einer allgemeinen Gesetzgebung zugrundegelegt werden könnte. Manche würden dabei vielleicht nur an ihr eigenes Wohl denken, manche auch an das Wohl anderer, man könnte sich aber nicht darauf verlassen, daß irgendjemand andere Gesichtspunkte als sein eigenes Wohl beachten würde. Die Entscheidung würde also meist hauptsächlich eigennützigen Motiven folgen und wäre im Sinne Kants nicht gut.
Anmerkung: Den „Wert“, die Auswirkungen einer Handlung auf sich selbst in die Entscheidung miteinzubeziehen, betrachte ich nicht als Wert im eigentlichen Sinn sondern als Naturgesetz infolge des Selbsterhaltungstriebes.
Der kategorische Imperativ setzt also ein Wertsystem voraus, um überhaupt angewandt werden zu können.
Der kategorische Imperativ fordert, daß man alle gegebenen Werte einhält, da man sich bei jeder Entscheidung an den Werten orientieren muß, und daher jeder Wert, der irgendein Thema behandelt, spätestens dann eingehalten werden muß, wenn eine Entscheidung zu diesem Thema zu treffen ist. (Es darf davon ausgegangen werden, daß es keine Werte gibt, die eine so unwichtige Thematik zum Inhalt haben, daß nicht alle Menschen zumindest ein Mal in ihrem Leben eine Entscheidung zu dieser Thematik treffen müssen.)
Was passiert, wenn in einem gegebenen Wertsystem zwei verschiedene Werte einander ausschließen? Bei Anwendung des kategorischen Imperativ könnte in der Thematik, die die beiden Werte betreffen, keine Entscheidung erzielt werden, da es unmöglich ist, beide Werte gleichzeitig zu befolgen. Es könnte also niemand in allen Lebensbereichen den kategorischen Imperativ anwenden, und das System würde zusammenbrechen.
Das System, in dem der kategorische Imperativ angewandt werden soll, muß bezüglich seiner Werte abgeschlossen sein: Es muß eindeutig sein, welcher Wert gilt und welcher nicht, und es dürfen nicht zwei verschiedene Wertsysteme zu einem System mit kategorischem Imperativ vereinigt werden.
Beispiel: Nehmen wir an, auf einer einsamen Insel lebt ein kleines Naturvolk, bei dem es keinen Eigentumsbegriff, so wie wir ihn kennen, gibt. Jeder, der etwas braucht, nimmt es sich; es ist genug für alle da, und sollte irgendein Mangel herrschen, so ist es die gemeinsame Aufgabe des ganzen Volkes, dafür zu sorgen, das der Mangel behoben. „Borgt“ sich nun ein Mitglied dieses Volksstammes einen herumliegenden Speer „aus“, um damit jagen zu gehen, entspricht dies dem kategorischen Imperativ: Wenn er Gott wäre, würde er es zum allgemeinen Gesetz machen, daß sich jeder das „ausborgen“ darf, was kein anderer im Moment braucht, wenn es seine Absicht ist, damit dem Gemeinwohl zu dienen. Die Vernunft dieses Menschen hätte keinen Grund, dieser Entscheidung zu widersprechen, da dieses allgemeine Gesetz bei diesem Volk uneingeschränkte Gültigkeit besitzt und zur Zufriedenheit aller funktioniert. Höchstwahrscheinlich käme niemand in diesem Volk auf die Idee, die Eigentumsfrage anders als so zu regeln; dieses System hat sich schließlich seit Generationen bewährt und niemand kann sich ein anderes vorstellen.
In der westlichen Zivilisation ist die Eigentumsfrage freilich anders geregelt, und jeder, der sich etwas „ausborgt“, was kein anderer im Moment braucht, selbst wenn er damit dem Gemeinwohl dienen will, verstößt gegen den kategorischen Imperativ.
Solange diese beiden Systeme abgeschlossen nebeneinander existieren, gibt es kein Problem, vermischen sie sich aber, stehen einander zwei einander ausschließende Werte gegenüber und das System bricht zusammen.
Der kategorische Imperativ setzt also ein abgeschlossen Wertsystem voraus.
Würden sich alle an den Wert der Lüge halten, wäre quasi die Lüge die Wahrheit, da jeder wüßte, daß „p“wahr ist, wenn jemand „¬p“ sagt, so gesehen müßte also jeder um zu lügen „p“ sagen, wenn „p“wahr ist, und das wäre keine Lüge sondern die Wahrheit.
Würde niemand seine Meinung sagen, wäre ein soziales Zusammenleben der Menschen unmöglich, da jeder nur nach seiner Meinung handeln, diese aber nicht artikulieren und somit auch mit niemandem austauschen dürfte. Dadurch wäre aber kein soziales Gefüge möglich, was der Natur des Menschen als Gesellschaftswesen widersprechen würde.
Da der Mensch von Natur aus in Freiheit geboren wird, widerspricht es dem kategorischen Imperativ, wenn jemand einem anderen die Freiheit raubt, da er ihm dadurch die Möglichkeit nimmt, jemand anderem die Freiheit zu rauben. Die Freiheitsberaubung des anderen kann also kein allgemeines Gesetz sein, da es nicht jedem möglich ist, es zu befolgen.
Anmerkung: Aus den logischen Widersprüchen, die bei Einführung der genannten Werte entstehen würden, folgt nicht unmittelbar – wie man vielleicht glauben möchte – die Notwendigkeit der ihnen entgegengesetzten Werte (der Wert der Wahrheit, der Meinungsfreiheit usw.). Das Gegenteil eines Wertes ist nämlich die Abwesenheit dieses Wertes, nicht aber die Notwendigkeit des ihm entgegengesetzten Wertes.
Da es niemanden gibt, der genau weiß, welche Werte in der Gesellschaft, in der er lebt, gelten und welche nicht, bzw. da es unüberschaubar viele Wertsysteme gibt, ist der kategorische Imperativ als praktischer Entscheidungsgrundsatz unbrauchbar.
Außerdem dürften in der Praxis kaum widerspruchsfreie Wertsysteme zu finden sein.
Nehmen wir an, es wäre ein Wertsystem mit allen notwendigen Voraussetzungen gegeben. Durch die Einhaltung des kategorischen Imperativ könnte kein Wert jemals abgeschafft oder abgeändert werden, da ein Wert verlangt, eingehalten zu werden, und wenn man einen Wert abschafft, hält man ihn nicht ein. Von den bestehenden Werten könnte also kein einziger abgeändert werden. Ein Fortschritt der Gesellschaft wäre dadurch unmöglich.
Wie steht es aber mit neuen Werten? Können wenigstens neue Werte in das Wertsystem aufgenommen werden? Ja, sie können. Ein Wert entsteht durch Übereinkunft aller Beteiligten, es kann also jederzeit ein neuer Wert hinzutreten.
Könnte man also nicht einen veralteten Wert abschaffen, indem man ihm einen neuen gegenteiligen gegenüberstellt? Nein, denn wie wir oben gesehen haben, bricht das System zusammen, sobald einander zwei Werte ausschließen. Die Mitglieder des Wertsystems haben bei der Einführung eines neuen Wertes darauf zu achten, daß dieser nicht im Widerspruch zu einem alten steht.
Man könnte versuchen, dieses Dilemma zu lösen, indem man einige Meta-Werte einführt, die nicht das Handeln des Menschen sondern das Wertsystem zum Inhalt haben.
Dieser Wert widerspricht sich selbst, da er auch sich selbst in Frage stellen müßte, wodurch die Möglichkeit seiner Abschaffung nicht ausgeschlossen werden kann und daher trotzdem die Gefahr des oben beschriebenen Wertkonservativismus besteht.
Dieser Wert widerspricht allen anderen Werten, da man ihn nicht gleichzeitig mit allen anderen befolgen kann: Man kann nicht einen Wert einhalten und zugleich ausprobieren, was passiert, wenn man ihn nicht einhält.
Dieser Wert widerspricht sich selbst, da man auch gegen ihn verstoßen müßte.
Dieser Wert ist methodisch unzulässig: Um die Sinnhaftigkeit des kategorischen Imperativ zu prüfen, kann man ihn nicht abschaffen, sondern muß die Folgen seiner Einhaltung untersuchen.
Dieser „Wert“ (der eigentlich keiner ist) hätte – wie oben beschrieben – die Sinnlosigkeit des kategorischen Imperativ zur Folge, da die meisten Menschen wahrscheinlich nur nach eigennützigen Gesichtspunkten entscheiden würden.
Ein System, in dem der kategorische Imperativ angewandt werden soll, muß folgende Bedingungen erfüllen:
Da sich jeder überlegen muß, wie sich die Maxime seines Willens auf ein allgemeines Gesetz auswirken würde, sind vor diesem Gesetz alle Menschen gleich, da jeder alle Rechte, die er sich selbst herausnimmt, auch allen anderen zugestehen muß.
Die allererste Auswirkung der Anwendung des kategorischen Imperativ in der Praxis wäre, daß sich die Menschen der geltenden Werte bewußt würden, und diese wohl auch hinterfragen würden. Zur Zeit Kants war der kategorische Imperativ deshalb bedeutsam, weil einige seiner logischen Implikationen nicht erfüllt waren (z.B. „Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich“).
Da der kategorische Imperativ von seiner Struktur her zeitlos ist, ist er heute genauso viel oder wenig gültig wie vor 200 Jahren. Die wichtigste Funktion des kategorischen Imperativ zur Zeit seiner Entstehung war es, die Menschen zum Denken und zum kritischen Hinterfragen des Systems anzuregen.
Die zeitlose Funktion des kategorischen Imperativ besteht darin, die Menschen zum permanenten Hinterfragen des Wertsystems zu animieren, da die Bewußtwerdung des Ist-Zustandes und der enthaltenen Widersprüche und Unzeitgemäßheiten die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung darstellt. Der kategorische Imperativ hat also die Funktion eines Wächters, der uns zur ständigen Reflexion über unsere Werte mahnt.